An der Quelle: leise lauschen

Im Widerstand, Zweifel, Schmerz fühlen wir uns getrennt. Dann suchen wir die Anbindung an unsere Essenz, als innere Orientierung. Diese Suche begleitet uns ein Leben lang. Die Trennung von Ich und Quelle ist eine sehr reale Wahrnehmung – auch wenn beide in der Tiefe immer verbunden sind. Frieden wartet dort, wo wir uns von der Quelle einholen lassen.

Meine Freunde fragen mich, ich frage mich selbst: Wie schaffe ich den Kontakt zur Tiefe meines Wesens, wenn Widerstände auftauchen, Antworten fehlen, grundlegende Schritte anstehen? Dazu eine Geschichte, eine Grundidee und eine Einladung zu drei Geschenken:

Die Geschichte:
Vom ewigen Eis zum Gletscherbach

Ab und an unternehme ich eine Wanderung, alleine und ohne detaillierte Planung. Diesmal wusste ich schon seit längerem, dass ich zum Morteratschgletscher «musste». Dieser Drang kam aus der Quelle, das Ich empfindet solche «übersinnlichen» Anwandlungen als wolkig. Es wollte dann auch eine klare Frage mitnehmen – wenn schon, dann muss sich die Reise lohnen. Die Quelle blieb ruhig und freundlich. Es war jetzt einfach Zeit, zu gehen. Das Ich willigte ein.

Auf der Bahnreise verschwomm sie langsam, die Grenze zwischen Ich und Quelle, die auch etwas Aufgesetztes hat. Das Eintreten in die Natur erhöhte die Verbindung. Angekommen an der Eiswand, deren schneller Rückzug sich im milchigen Gletscherbach zeigte, öffnete ich mich für die Quelle in mir und vor mir. Worte tauchten auf: «Wenn ewiges Eis schmilzt, rumpelt’s: Steine rollen ins Tal, Risse öffnen sich, Stücke brechen ab. Es bewegt sich mehr, als der erste Blick zeigt.» Diese Ein-Sicht berührte meine persönliche Situation, führte zu mehr Ein-Klang in mir, mehr Frieden mit aktuellen Herausforderungen.

Und ich ahnte, dass dort, wo Wasser schmilzt, sich Gegensätze verbinden. Nicht in dem Sinne, dass sie sich auflösen. Das Wasser besitzt seine Form als Gletschereis und als Gletscherbach. Da ist nichts besser oder schlechter. Im Schmelzen vollzieht sich ein Wandel. Dort, wo wir fliessen, können wir in dem sein, was ist. Ob angenehm oder schwierig. Und manchmal sitzen wir fest im Eis, gefangen in der Spaltung von richtig und falsch.

Die Grundidee:
Trennung geschieht, Verbindung lockt

Mensch werden beginnt mit dem Verschmelzen zweier Polaritäten: Die Samenzelle ist sehr klein, die Eizelle die grösste menschliche Zelle. Eizellen sind empfindlich, Samenzellen robust. Erst die Verbindung dieser beiden Gegensätze ermöglicht das Neue – das sich gleich darauf mit der ersten Zellteilung fortsetzt.

Verschmelzen und Trennen sind von Anfang an gleichwertige, grundsätzliche Voraussetzungen des Neuen.

Seit unserer Empfängnis sitzen wir in der Quelle unseres Lebens. Wer Neugeborene sieht, ahnt etwas von dieser Verbindung. Nach den ersten Monaten der Abhängigkeit und Einheit mit der Mutter vertieft sich diese Reise der Trennung.

Denn erst in der Trennung, als individuelles Ich, werden wir handlungsfähig. So definieren wir, wer wir sind, durch unsere Werke und unsere Beziehungen.

Im Kern geschieht diese Trennung immer im Rahmen des Ganzen, das über uns hinaus reicht. Wir sitzen an der Quelle, auch wenn wir uns getrennt, ausgegrenzt und unsicher fühlen.

Und immer lockt diese Verbindung, wir haben eine Wahl. Die Quelle summt ein Lied, stupst, weckt unsere Sehnsucht nach Einklang. Manchmal frieren wir trotzdem ein, trauen der Verbindung nicht, graben uns ein im Widerstand. Vielleicht, weil wir uns dort sicher fühlen. Diesen Platz kennen wir und den geben wir nicht auf. Erst recht nicht, wenn andere nicht das tun, was wir wollen.

Dass andere nicht das tun, was wir wollen, zählt genauso zum Repertoire der Quelle. Sie bringt uns in Situationen, die etwas in uns auslösen, unsere Tiefe berühren. Denn erst dort, in der Tiefe, kann das ewige Eis schmelzen, können sich Gegensätze vereinen. Damit daraus wieder das Neue entstehen kann, bis zur nächsten Trennung.

Ich reise ungern in die Gletscherspalten meiner Gefühle. Obwohl ich schon oft erfahren habe, dass ich erst dann wieder «ganz» mit einer schwierigen Situation umgehen kann, wenn ich dem begegnet bin, womit ich in mir hadere. Wenn ich den Mut habe und die Sicherheit spüre, um meine Trauer, Wut, Ohnmacht oder Verlorenheit zu erforschen. Oft gehe ich da erst hin, wenn es nicht mehr anders geht.

Drei Geschenke:
zulassen, lauschen, versöhnen

Soweit eine Grundidee, die mir persönlich als Landkarte dient. Daraus sehe ich drei Möglichkeiten, die mich auf meinem Weg in die Verbindung unterstützen.

  1. Zulassen: Trennung erkennen, Tiefe einladen

Wenn der Weg ins Ich anfängt zu schmerzen, dann ist das ein Zeichen der erstarrten Trennung. Dann habe ich die Wahl: Bleibe ich in der engen Haltung von richtig und falsch? Das setzt natürlich voraus, dass ich diese Enge überhaupt wahrnehme, zulasse, beobachten kann. Ohne sie gleich wieder zu verdammen, loswerden zu wollen, wegzumachen. Dann sorge ich für innere Sicherheit. Indem ich mich aus einer heissen Diskussion zurückziehe. Die Szene wechsle. Mir etwas Gutes tue. Sitzen, atmen, spazieren, Blumen giessen – alles, was mir leichtfällt, ein Lächeln ins Gesicht zaubert. In dieser Sicherheit verbinde ich mich mit der Enge, meinen Gefühlen darunter, den leisesten Körperreaktionen. Von dort aus lade ich die Verbindung zur Quelle ein.

  1. Lauschen: Sich aus der Quelle leben lassen

Mir hilft die Vorstellung, dass das Universum, die umfassende Quelle für mich sorgt. Dass unsere «eigene Natur anfängt, sich um sich selbst zu kümmern», wenn wir den Wahn loslassen, uns immer gleich selbst verbessern zu wollen – wie es Alan Watts beschreibt. Ich staune, seit ich mich mehr darauf einstimme, dass jede Begegnung, jeder Austausch, jeder Wink eines fallenden Herbstblattes ein leiser Klang aus der Melodie sein könnten, welche die Quelle für mich summt.

  1. Versöhnen: Frieden schliessen mit sich selbst

Dieses Geschenk ist wohl am schwersten anzunehmen: Mich selbst. Nachhaltiges Wachstum stellt sich dort ein, wo ich im Frieden bin mit mir. Je unangenehmer die Situation, desto weniger mag ich diesen Satz hören – weil etwas in mir daran glaubt, dass ich nur mit Anstrengung, grösst möglicher innerer Spannung aus der Sackgasse rausfinde. Manchmal hilft mir dann hinsitzen und dankbar sein. Staunen darüber, dass ich da bin, was mir schon alles gelungen ist oder geschenkt wurde.

Ganz im Sinn von John O’Donohue: «Wider alles Ausprobieren von Programmen und Methoden liegt die grosse Kunst des Ganz Seins im sich selbst so Sein lassen.»