Hilti Art Foundation

«arteria» war zu Besuch in Bülach. Entstanden ist eine grossformatige Reportage über mein Werk und meinen Werdegang. 

Ein besonderer Atelierbesuch: Paul Herberstein und Petra Rainer waren einen halben Tag im Herrenwis. Der Chefredaktor hat gefragt, die Fotografin Details entdeckt, ich mal gearbeitet, mal geantwortet. Unter dem Titel «Das Holz, aus dem Künstler geschnitzt sind» zeigt das Hilti-Kunstmagazin, wie mich die beiden sehen. Ein schönes Geschenk, eine Momentaufnahme als «Streicheleinheit».

Reportage deutsch/englisch PDF
arteria Winter 2018/2019 ganzes Heft
Hilti Art Foundation Ausstellungen


Das Holz, aus dem Künstler geschnitzt sind.

Greift Marcel Bernet in seinem Atelier zur Motorsäge, beginnen die Musen zu singen. Der Schweizer Künstler formt dann aus grober Materie feine Kunst. Wir haben ihm dabei hautnah über die Schulter blicken dürfen.

Eigentlich ein gewohntes Bild mit vertrauter Geräuschkulisse: Mitten in einem Wald wird eine Motorsäge angeworfen. Scharf rasselnd gräbt sie sich in die raue Rinde eines Baumstammes und lässt feine Späne auf den Boden rieseln. Allein hier geht kein Forstwirt seinem Tagwerk nach, sondern ein Künstler. Marcel Bernet steht mit Helm, Gehörschutz und Stahlkappenschuhen vor dem Atelier und bearbeitet konzentriert eine Skulptur. Seine Werkstatt liegt versteckt in einer vor vielen Jahren stillgelegten Fabrik in Bülach und ist von einer prachtvollen Naturlandschaft umrahmt. Eine Art Schutzschild gegen den tosenden Alltag und gleichzeitig nie versiegende Quelle für jenen Werkstoff, aus dem seine Kunst geboren wird: Holz.

Marcel Bernet modelliert mit einer handlichen Akku-Säge behutsam eine Frauenfigur aus dem Stamm. Immer wieder hält der grossgewachsene, schlanke Mann inne, um den eigenen Arm zu mustern. Er nimmt Hand und Finger genau unter die Lupe und prüft, wie die Gelenke anatomisch ineinander übergehen. Der Holzklotz ihm gegenüber beginnt mit jedem seiner Schnitte an Gestalt und Lebendigkeit zu gewinnen. Man spürt, dass Künstler und Skulptur längst in ein stilles Zwiegespräch vertieft sind. Ein Gespräch, das erst dann endet, wenn aus dem Holz ein fertiges Kunstwerk geformt ist. Mit Körper und Seele.

Inzwischen schweigt die Motorsäge im Bülacher Atelier, die Kunst macht Pause. Bis zu drei Monate arbeitet Marcel Bernet an einer Skulptur und gönnt sich dazwischen längere Unterbrechungen, um sich seiner Arbeit wieder mit frischem Blick nähern zu können. «Oft staune ich selbst, wie ich letztendlich zu einem bestimmten Ergebnis gekommen bin. Die Symbolik und Aussage eines Kunstwerkes zeigt sich nicht selten ganz am Schluss. Oder gar erst in der Zusammenschau einer Ausstellung», erzählt der 60-jährige Schweizer, dessen künstlerische Laufbahn – neben einer erfolgreichen Karriere als PR-Berater und Coach – erst vor rund zehn Jahren Fahrt aufgenommen hat. «Seit ich denken kann, wollte ich Kunst machen. Ich besuchte schon als Jugendlicher leidenschaftlich gern Museen oder Galerien und nahm über all die Jahre regelmässig an Kunstkursen teil.»

Das berühmte Aha-Erlebnis kam schliesslich anlässlich eines Galeriebesuches in Zürich. Marcel Bernet erinnert sich: «Die eindrucksvollen Skulpturen von Stephan Balkenhol haben mich sofort in ihren Bann gezogen.» Mit einem Schlag hatte Marcel Bernet jene Werkzeuge in der Hand, die ihm den eigenen Weg zum Künstler ebneten: Motorsäge und Holz. «Ich hatte damals mit 50 erstmals die Möglichkeit und wohl auch die Reife, neben dem Brotberuf auch der Kunst Zeit und Raum zu geben. Nicht als konkurrenzierende Gegenpole, sondern mit dem Selbstbewusstsein: Ich bin und darf beides», erzählt Marcel Bernet und strahlt dabei tiefe Gelassenheit aus. Doch anders als Balkenhol schafft Bernet ausschliesslich mit der Motorsäge und verzichtet darauf, mit dem Schnitzmesser fein nachzuarbeiten. «So fühlt es sich für mich richtig an. Als ob ich mit einem dicken Filzstift malen würde.»

Wie zum Beweis holt der Holzbildhauer ein paar Skizzenbücher aus einer Lade. «Darin zeichne ich meine Ideen am liebsten mit Kreidestiften. Das gibt bereits eine erste Anmutung, wie die fertige Skulptur später aussehen könnte.» Stichwort Ideen: Wo begegnen die einem Künstler wie ihm? Marcel Bernet lächelt still. «Ich kenne eigentlich keine kreative Krise oder Leere. In mir klingt ständig ein Grundgesang an Ideen: Einige Stimmen daraus verstummen wieder, andere wiederum bleiben und ich lausche ihnen zu und überlege mir, wie daraus ein Kunstwerk entstehen könnte.» Zu den eigenen Geistesblitzen kommen noch Bilder aus dem täglichen Leben: Begegnungen mit Menschen, spannende Situationen oder auch nur Fotos aus Magazinen oder dem Internet.

Dem feinstofflichen, kreativen Prozess stehen der rohe Werkstoff und die körperliche Arbeit gegenüber – oder wie es der Künstler selbst augenzwinkernd als «Schweiss und Sägespäne» bezeichnet. Auch heute. Der Holzbildhauer zieht einen wuchtigen, rohen Baumstamm mit einem Gabelstapler ins Freie. Ein fettes rosafarbenes «B» prangt auf der Rinde der seltenen Zeder. «B» für Bernet, wohlweislich vom örtlichen Förster markiert, wenn er besondere Ware im benachbarten Wald fällt und diese dann dem Künstler zum Kauf anbieten kann.

Marcel Bernet greift zum schweren Gerät: eine Benzinmotorsäge mit 90 cm Sägeblatt. Laut und schrill schneidet er damit den oberen Teil des Stammes ab. «Nur mit so einem Profigerät gibt es einen sauberen Schnitt für die gewünschte Grösse», erklärt der erfahrene Skulpteur. Mit roter Kreide kennzeichnet er danach auf der frischen Schnittfläche die Umrisse des geplanten Werkes. Im Rohzustand tastet sich Bernet so an die spätere Form heran. «Ich beginne stets von oben und brauche zumindest einen Kopf oder ein Gesicht in groben Zügen, damit das Kunstwerk zu mir zu sprechen beginnt», gewährt der Künstler Einblicke in seinen ganz persönlichen Schaffensprozess. «Danach fühle ich mich zeitweise als Diener der Materie. Es beginnt eine Art Tanz zwischen dem, was ich will, und dem, was das Objekt von mir will.»

Haben Künstler und Kunstwerk ausgetanzt, ruhen sich beide zunächst voneinander aus. Die fertigen Skulpturen bleiben oft wochenlang stehen, ehe man nochmals auf hölzerne Tuchfühlung geht: die rohe Form wird bemalt. «Ein komplett eigenständiger Vorgang und wohltuender Kontrast zur körperlich anstrengenden Arbeit mit der Motorsäge», erklärt Bernet. Die Farbgebung hat für ihn etwas Meditatives. Als Pigmente kommen meist natürliche Farbtöne zum Einsatz – wie etwa rote toskanische Erde. «Ich setze mit der Farbe nur noch einfache Akzente für das Auge. Die Form muss dann schon stimmen. Mit dem Malen streichle ich bloss noch darüber.»

Für die eigenen künstlerischen Streicheleinheiten sorgen schliesslich Ausstellungen und Vernissagen. Marcel Bernet gibt offen zu: «Mir sind Anerkennung und Applaus wichtig. Nicht zuletzt auch deshalb, weil man die eigene Kunst erst in Ausstellungen neu und durch die Augen anderer erleben kann.»

Der Besuch im Atelier neigt sich dem Ende zu. Marcel Bernet führt zu bereits fertigen Skulpturen im Aussengelände des Ateliers und zeigt dabei noch seine «Vorratskammer»: Holzstämme, die meisten direkt aus dem umliegenden Forst angeliefert. «Ich mag ihren Geruch und ihre Struktur. Allein die unterschiedlich dicken Jahresringe, die wie beim Menschen auf ein abwechslungsreiches Leben hindeuten», schwärmt der Künstler. «Auch das Widerborstige darin: Astlöcher oder Risse. Holz wächst und verändert sich ähnlich wie wir. Und ich darf dem Holz durch meine Arbeit ein zweites Leben schenken.»

Zum Abschied wird Marcel Bernet kurz nachdenklich. «Ich hoffe, ich war mit all meinen Ausführungen nicht zu weitschweifig und offen?» Keinesfalls. Schliesslich ist es nur so möglich, tief in die Seele eines Künstlers zu blicken. Und in das Holz, aus dem er geschnitzt ist.

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